Bei den seit Tagen anhaltenden Gefechten an der Grenze zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus sind auf beiden Seiten erneut mehrere Menschen ums Leben gekommen. Nach aserbaidschanischen Angaben starben allein auf dieser Seite seit Sonntag elf Menschen. Damit wären dies die folgenreichsten Kämpfe seit Jahren. Die genaue Zahl der Toten und Verletzten ist unklar.

Stalins Nationalitäten-Politik

Die Zerstückelung der gesamten Kaukasusregion in Enklaven und Exklaven, in Sowjetrepubliken, Autonome Gebiete und so weiter, entsprang der Strategie Stalins, der sich als Sohn eines Osseten einer Georgierin in der Region mit ihrem mannigfaltigen ethnoreligiösen Mosaik bestens auskannte und ein Gespür für die politische Ausgangslage hatte.

In seiner Amtszeit als Volkskommissar für Nationalitätenfragen programmierte er den ethnisch-konfessionellen Streit vor, durch willkürliche Grenzziehungen beispielsweise. Im Falle von Unabhängigkeitsbewegungen, weg von Moskau, wäre das alte Prinzip des Teilens und Herrschens zum Tragen gekommen, wie es auch 1991 geschah. Die Auflösung der Sowjetunion wurde im Südkaukasus von gewaltigen Massakern begleitet.

Brennpunkt Bergkarabach

Armenien und Aserbaidschan streiten seit mehr als 30 Jahren um die Region Bergkarabach, die auf dem Territorium Aserbaidschans liegt, aber armenisch besiedelt ist. Seit den frühen 1990er Jahren ist das Gebiet von Armenien besetzt, und die UNO erkennt das selbsternannte separatistische Regime in Bergkarabach nicht an.

Der aktuelle Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan hat seine Wurzeln im Osmanischen Reich, eskalierte aber wieder nach dem Untergang der UdSSR. Immer wieder kam es seitdem zu Grenzkonflikten, die auf beiden Seiten Todesopfer forderten.

Vor sechs Jahren lernte ich in Eriwan einen jungen Geschichtsstudenten kennen.

Wir Armenier haben eine andere Zeitrechnung als ihr im Westen",

erklärte er mir lachend, in einem Café der armenischen Hauptstadt.

"Die erste Teilung haben wir vor 2.500 Jahren erlebt. Das Christentum haben wir siebenhundert Jahre früher angenommen als ihr in Europa. Wir haben zehn Jahrhunderte vor Euch in unserer eigenen Sprache zu schreiben begonnen. Doch Armenien erlebte dieselbe, für diesen Teil der Welt typische Tragödie: Ein Mangel an historischer Kontinuität, das plötzliche Auftauchen leerer Seiten in den Geschichtsbüchern. Ohne eine Einigung mit der Türkei wird es schwierig bleiben. Ich halte es für einen Fehler, den Genozid zum Politikum zu machen, wir können uns nicht nur dadurch definieren. Auch mit Aserbaidschan muss verhandelt werden. Armenien betet, während Aserbaidschan boomt."

Arams Thesen finden bei den anwesenden Gästen, die keineswegs den Querschnitt der Bevölkerung Eriwans darstellen, leise Zustimmung.

Moskau und Teheran - Armeniens Schutzmächte

Armenien, das älteste christliche Land der Welt, lehnt sich außenpolitisch eng an Teheran und Moskau an. 1915 begann in der Türkei das Massaker an den Armeniern, bis zu Hitler war das der größte Genozid im 20. Jahrhundert.

Russland und Persien sind die beiden historischen Schutzmächte dieses Landes, das immer um sein Überleben kämpfen musste. Im September 2013 erklärte Präsident Sersch Sargsjan nach einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in Moskau überraschend, Armenien werde der Eurasischen Zollunion beitreten.

Die Eurasische Zollunion besteht seit 2010, Mitglieder sind bisher Kasachstan, Russland und Weißrussland. 2015 sollte die Union zu einer Wirtschaftsunion aufgewertet werden, die dann auch eine politische Integration zur Folge haben sollte.

Inzwischen haben sich die politischen Kräfteverhältnisse in Armenien grundlegend geändert, das Verhältnis zwischen Eriwan und Moskau war zeitweise heftigen Spannungen ausgesetzt, die geopolitische Grundkonstante bleibt aber erhalten.

Was die Beziehungen zu Teheran angeht, so hätte Armenien ohne Iran seit seiner Unabhängigkeit 1991 kaum überlebt. Die geschlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei strangulieren jegliche wirtschaftliche Entwicklung und engen die geostrategischen Perspektiven Armeniens dramatisch ein. Die Türkei sprang Aserbaidschan zur Seite und machte Armenien für die aktuelle Eskalation verantwortlich.  

„Was bedeutet das konkret für mich!?“

Es gibt alte Karten von der Welt, in der das Kaspische Meer als Mittelpunkt der Erde dargestellt wird, im weitesten Sinne die Region des Südkaukasus, wo schon seit der Frühphase der Menschheit die Handelsströme aus China und Zentralasien, mit denen des persischen Reiches und Griechenlands zusammentrafen. Der britische Historiker Peter Frankopan schreibt in seinem lesenswerten Buch “Licht aus dem Osten“ diesbezüglich:

Zu meinem vierzehnten Geburtstag schenkten mir meine Eltern ein Buch des Anthropologen Eric Wolf, das buchstäblich das Feuer in mir entfachte. Die akzeptierte und träge Geschichte der Zivilisation, so Wolf, halte sich an die Version, «wonach das antike Griechenland das alte Rom hervorgebracht hat, Rom wiederum das christliche Europa, das christliche Europa die Renaissance, die Renaissance die Aufklärung, und die Aufklärung politische Demokratie sowie die industrielle Revolution. Die Industrie wiederum soll – nachdem sie sich mit der Demokratie vermählt hat – die Vereinigten Staaten von Amerika gezeugt haben, die bekanntlich das Recht auf Leben und Freiheit sowie das Streben nach Glück verkörpern. Ich erkannte sofort, dass das genau die Geschichte war, die man mir erzählt hatte: das Mantra des politischen, kulturellen und moralischen Triumphs des Westens. Dabei hatte diese Version etliche Mängel; es gab andere Möglichkeiten, die Geschichte zu betrachten – Sichtweisen, die die Vergangenheit nicht aus der Perspektive des Siegers der jüngsten Geschichte wiedergaben. Ich war begeistert. Auf einmal war offensichtlich, dass die Regionen, über die wir nichts erfuhren, verlorengegangen waren, erstickt von der uns hartnäckig eingebläuten Story vom Aufstieg Europas.

Ja, der Südkaukasus gehört zweifelsohne zu jenen verlorengegangenen Regionen, von denen Frankopan hier schreibt, verlorengegangen in unserem historischen Bewusstsein. Das wird sich aber bald ändern, denn durch die Initiative der Volksrepublik China und dem unglaublichen Reichtum an natürlichen Ressourcen, wird die Region um das Kaspische Meer, die Region des Südkaukasus, wo die beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan liegen, beträchtlich an Bedeutung gewinnen.

Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrags

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